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Wasser ohne H2O: Jetzt in der Galerie Hilde Leiss

Jun 5th 2015, 21:23 - Permalink

Ausstellung 10.6. – 15.7.2015 Li Trieb

Wasser

Bleistiftzeichnungen

Galerie Hilde Leiss

Wir zeigen die neuen Arbeiten von Li Trieb anläßlich ihrer Beteiligung an der Ausstellung
»Über Wasser. Malerei, Graphik und Photographie von Turner bis Eliasson« im Bucerius Kunst Forum Link Text
parallel dazu zeigt Fritz Baumann Link Text aktuelle Holzskulpturen »Die Hocker«

Großer Burstah 38, 20457 Hamburg, Tel. (040) 36 55 74, Fax (040) 37 81 79 www.Hilde-Leiss.de, info@Hilde-Leiss.de
Mo. – Fr. 10 – 19 Uhr, Sa. 10 – 18 Uhr
Abbildung:
Li Trieb
»Fische II, vom 31.8.2013 um 15 07 bis zum 18.9.2013 um 17 11, 5.490 Minuten gezeichnete Zeit« Bleistift, 50 x 70 cm

Kommen Sie in unserer Galerie, nehmen Sie Platz auf einem "Hocker", und schauen Sie aufs Wasser an der Wand.

Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Wolf Keller
Facilitator

Den roten Faden weitergereicht an Li Trieb,

Wie viele Farben hat der Himmel? Sie hat nie versucht, sie zu zählen. Aber es müssen Tausende sein. Saiblingrosa war er am 4. Januar 2000 um 8.15 Uhr. Warzenschweingrau am 24. November 2013 um 7.13 Uhr. Und kühlhellblau vor genau fünf Jahren, am 31. Mai 2009 um 7.32 Uhr. Silvester 2013 hatten wir einen grautürkis getigerten Himmel. Und am 22. Oktober 2003 war er putenschnitzelrosa. So steht es im Archiv der Augenblicke, das Li Trieb am 1. Januar 2000 angefangen hat zu führen. Sie hat darin die tägliche Himmelsfarbe zum Zeitpunkt ihres Erwachens aufgeschrieben. Und damit aus einer alltäglichen Handlung etwas Außergewöhnliches rausgefiltert. "Wie viel Poesie steckt in der Banalität?", fragt sie sich.

Ein Jahr später beginnt sie das Projekt "Das tägliche Himmelsphoto". Bis heute greift sie täglich zur Kamera und belichtet mit einer 100stel-Sekunde. Alle Fotos eines Jahres zusammengezählt ergeben circa 3,5 Sekunden sichtbar gemachter Zeit, ein Ausschnitt aus 31.536.000 Sekunden, die jedem Menschen innerhalb eines Jahres zur Verfügung stehen. Aus diesem Schaffen heraus stellt sich für sie die Frage: Wie verbringe ich diese Zeit, was will ich tun, und nicht zuletzt: Wer will ich werden?

Die 61-Jährige sitzt in ihrem Atelier in St. Georg, im vierten Stock, dort, wo sie den Wolken am nächsten ist. An den Wänden hängen ihre Bilder, großformatige Zeichnungen sind es. 88 mal 88 Zentimeter. Sie zeigen das Wasser in all seinen Aggregatszuständen. Meer, Wolken, Eis und Regen. Was aus der Ferne aussieht wie die zugefrorene oder wieder aufgetaute Binnenalster in Nahaufnahme, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Bleistiftzeichnung, manchmal unter Zuhilfenahme von Pigment. Exakt bis ins letzte Detail.

Unvorstellbar, dass so etwas per Hand entstehen kann. Unvorstellbar, dass ein Mensch so präzise und über einen so langen Zeitraum an einem Werk arbeiten kann. 42.069 Minuten gezeichnete Zeit stecken zum Beispiel in dem Bild "Eis VI", an dem die Künstlerin vom 28. Februar 2011, 12.11 Uhr bis zum 6. Februar 2012, 12.57 Uhr gearbeitet hat. Es ist ihre eigene Lebenszeit. Gestaltet im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stellt diese Fragen schon lange nicht mehr: Was will ich tun, wer will ich sein? Es sei ja eh eine eher deterministische Frage. Weil sie festlege und damit lebensfern sei. Schließlich alterten Menschen, sie hätten Erkenntnisse und damit würde sich auch die Antwort immer wieder ändern.

Passend also, dass ihr Lebensweg ein verschlungener ist. Geboren in Neustadt an der Donau, aufgewachsen in einem strengen Elternhaus. Vater und Mutter betreiben einen Friseursalon. Die Kinder haben zu gehorchen. Mit neun Jahren wird die kleine Li in ein Internat, das Kloster Gnadental, geschickt. Das Haus ist streng katholisch. Der Tag fest strukturiert.

Morgens um 6 Uhr Messe, dann Schule, Spaziergang in der Kolonne, links, rechts, vorne, hinten Nonnen, dann Studienzeit und wieder Messe. Freizeit gibt es nicht. Auch keine Freiräume. Für ein freiheitsliebendes Kind wie Li ist die Situation kaum zu ertragen. Sie sucht sich innere Nischen. Sie weiß, dass ihre Fantasie grenzenlos ist. Und dass keine der Nonnen in ihr innerstes Wesen hineinschauen kann.

Und doch sehen die Ordensschwestern mehr, als das Mädchen ahnt. Als sie die Schule beendet, fordern ihre Eltern sie auf, in den Friseursalon einzusteigen. Es ist Schwester Euphemia, die Leiterin des Internats, die ihr einen anderen Weg ans Herz legt. Sie solle ihre Begabungen nutzen, unbedingt etwas Künstlerisches lernen. Also beginnt Li Trieb ein Studium an der Fachhochschule für Gestaltung in Augsburg. Sie spürt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Kaum ist sie angekommen, sitzt auch schon das erste nackte Model vor ihr. Sie ist verunsichert. Es ist das erste Mal, dass sie einen unbekleideten Mann sieht. Doch die Gewöhnung kommt schneller als gedacht. "Das sind auch nur Formen", sagt sie sich.

Sie arbeitet wie eine Besessene, will so viel wie möglich lernen. Doch sie weiß, ganz egal, wie gut sie auch werden wird, es wird schwierig bleiben, mit der Kunst sein Geld zu machen. Also hängt sie eine Schneiderlehre dran. Dann legt sie los, näht ihre eigene Kollektion, malt Bilder, bemalt Kleider. Und verliebt sich in ihren Mann, einen Schweizer Musiker. Gemeinsam gehen die beiden für ein Jahr nach Indien. Sie besucht in Kalkutta die Academy of Fine Arts, er studiert Musik. Als der Monsun kommt, beschließen sie, zurück nach Bern zu gehen. 120 Kilogramm Gepäck haben sie dabei. Die Grenzbeamten schauen sich jedes Stück an. In einem Gewürz finden sie Spuren von Morphium. Obwohl klar ist, dass es sich hierbei um natürliche Bestandteile handelt, wird Li Trieb aufgefordert, die Schweiz zu verlassen. Kurzerhand heiraten die beiden.

Über eine Freundin entdeckt sie eine neue Leidenschaft: Modern Dance. Die Art zu tanzen fasziniert sie. Als die Trennung von ihrem Mann kommt, ist sie gerade 25 Jahre alt. Sie beschließt, nach Asien zu gehen, um Tai-Chi zu lernen. Vielleicht lässt sich beruflich daraus etwas stricken, denkt sie. Ihre erste Etappe geht nach Thailand. Sie besucht dort einen Freund, der in einem buddhistischen Kloster als Mönch lebt. Eine Woche bleibt sie bei ihm. Sie bekommt ein Gespür dafür, was Meditation bedeutet. Doch das Ganze ist ihr zu "wischiwaschi", nicht streng genug.
In einem buddhistischen Kloster lernt sie meditieren - 20 Stunden am Tag

Sie hat Blut geleckt, jetzt will sie es genau wissen, erfährt von einem Kloster im Norden Thailands, in dem nach strengsten Regeln meditiert wird. Der Abt weist ihr einen Bretterverschlag zu. Sie bekommt zwei Wolldecken und den Hinweis, dass sie versprechen soll zu bleiben, bis sie am Ziel ist. Bis sie alle Höhen und Tiefen, die sich während der Meditation ergeben, hinter sich gelassen hat: Wut und Wahn, Angst und Euphorie. Sie will es wagen, beginnt ein Leben, das aus vier Stunden Schlaf und 20 Stunden Meditation besteht.

Sie begegnet sämtlichen ihrer Gewohnheiten, beobachtet sie neutral und löscht sie aus, jede einzelne. Am Ende meditiert sie drei Tage und drei Nächte lang. Was bleibt, ist ein Gefühl von absolutem Losgelöstsein, eine Art Erlösung. Sechs Monate bleibt sie. Dann zieht sie weiter. In der ersten Nacht außerhalb des Klosters schläft sie am Strand. Am Morgen wacht sie inmitten einer Wasserbüffelherde auf. Nichts kann sie mehr aus der Ruhe bringen.

Heute weiß sie, dass sie ihre großen Zeichnungen ohne diese Erfahrung nicht machen könnte. Weil sie nicht in der Lage wäre, alles andere auszuschließen und nur das, was sie tut, zu denken und zu empfinden. "Mit Geduld hat meine Arbeit nichts zu tun", sagt sie über Arbeiten wie die Zeichnung "EisV", an der sie zwischen dem 13. März 2010 und dem 7. Februar 2012 insgesamt 37.210 Minuten gesessen hat. Mit Ruhe und Konzentration. Nicht nur, dass ihre Bilder wirklicher aussehen als die Wirklichkeit selbst. Auf die Minute genau hält sie auch die verrinnende und beim Notieren schon verronnene Zeit fest und notiert sie auf der Rückseite der Zeichnung.

Der große Durchbruch kommt 2006, als das schweizerische Museum Franz Gertsch die Werke der Hamburger Künstlerin präsentiert. 15 Bilder gehen in den Besitz des Museums über. Inzwischen ist die Nachfrage von Sammlern so groß, dass sie mit der Produktion gar nicht mehr hinterherkommt. "Himmel und Wasser stehen für diese naturgegebene Zeit, während sich die Titel meiner Arbeiten immer auf einen exakt gemessenen Zeitpunkt beziehen", sagt sie. Die Zeichnungen dokumentierten einen längeren Zeitraum: den Prozess ihrer Arbeit an diesen Werken. Sie zeigen auch nicht wirklich exakte "Zustände", wie sie am Himmel oder im Wasser tatsächlich vorhanden waren, sondern fiktive Situationen.

Ihre Arbeiten seien gebannte Momente der Aufmerksamkeit, sagt sie. Jeder Augenblick verweise auf vergangene und kommende Augenblicke. Diese Zeit will sie mit Hingabe für etwas zu verbringen. Ganz bewusst erleben. Das gelinge zwar auch ihr nicht immer, gibt sie zu. Aber zumindest jeden Morgen, wenn sie die Jalousien hochzieht, in den Himmel schaut und die Farbe des Himmels in ihr Archiv notiert. Derzeit arbeitet sie an der Zeichnung "WasserXVI". Es ist ein Auftragswerk eines Schweizer Kunstsammlers. Das Format: 190 x 135 Zentimeter. Das Land bringt ihr Glück, das weiß sie heute, wenn sie rückblickend an die Zeit zwischen der Rückkehr aus Asien und ihrem Aufbruch nach Hamburg denkt. Damals betrieb sie in Bern eine Boutique. Ihr Modelabel "Li Trieb" war der Renner. Für die Kunst aber musste es Hamburg sein. Weil der Himmel hier weit ist und das Wasser nah.

Inzwischen hat sie so viel davon gezeichnet, dass sie relativ unabhängig von Vorlagen arbeiten kann. Alles, was mit dem Element Wasser im Zusammenhang steht, hat sie zu Papier gebracht. Nur an den Schnee hat sie sich bis heute nicht herangewagt.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Li Trieb bekam den Faden von Hilde Leiss und gibt ihn an Ulrike Schröder weiter